Raum als pädagogische Dimension. Erkundungen zum "dritten Pädagogen"

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Sommersemester 2017
Uni Wien Institut für Bildungswissenschaft

Zwar können wir in Tests, Leistungskontrollen oder internationalen Schulleistungsvergleichsstudien messen, was SchülerInnen können, aber inwiefern dieses Können auf die Bemühungen von LehrerInnen zurückzuführen ist, darüber wissen wir auch nach über 2000 Jahren Pädagogik noch immer wenig. 

Noch viel schwerer ist es jedoch zu bestimmen, wie der so genannte ‚dritte Pädagoge‘, der Raum, wirkt. (vgl. Lachmann/ Schluß 2007)

Wie verhält sich die gebaute pädagogische Programmatik zu dem, was die LernerInnen in und von diesen Räumen lernen?

Diesen Fragen sind wir im Sommersemester 2017 in einem Seminar an der Universität Wien nachgegangen. Wir haben dabei nicht nur klassische pädagogische Orte besucht, sondern sehr verschiedene emblematische Räume nach dem Verhältnis von architektonischer Programmatik zu pädagogisch praktischen Wirkungen angesichts des Raumes als ‚geronnener pädagogischer Praxis‘ befragt. Drei Schulgebäude waren Bestandteil einer Exkursionen und werden in Folge kurz beschrieben.

Da, wo die Schulen Paläste waren
Die Erfindung der modernen Schule im Dessau der Aufklärung
Fürst Franz von Anhalt-Dessau (1740– 1817), der sein kleines Land zum Musterstaat der Aufklärung umbauen will, wagt sich auch in pädagogische Bereiche und bietet Johann Bernhard Basedow die Chance, seine Schulphantasien zu realisieren.
Das »Philanthropin« wird zu einem pädagogischen Pilgerort, von dem berichtet wird, dass »die Pädagogik [zu Dessau] in Palästen throne« (Hirsch 2013: S. 306), weil der Fürst dem Philanthropin ein Palais zur Verfügung stellt und sogar den eigenen Sohn in diese Musterschule schickt.
Man geht schwimmen und beackert den Schulgarten. Lernen findet im Freien statt, indem LehrerInnen mit ihren SchülerInnen auf Exkursionen die Welt erkunden.
Dabei wird gern auch in anderen Sprachen gesprochen. Peter Villaume erfindet nicht nur den Schulsport, sondern auch unsere noch heute üblichen Turngeräte.

Schule leben zwischen Gründerzeit und Hausbesetzung
Das Schulkollektiv im WUK
Das Werkstätten- und Kulturhaus (WUK) ist ein Produkt der Protestbewegung der 1970er Jahre. Der Gründerzeitkomplex war einstmals Verwaltungsgebäude der Wiener Neustädter Lokomotivenfabrik.
Dass die Gründerzeitschulbauten (vgl. Haubfleisch 1906) häufig an Kasernen erinnern und insbesondere den Arbeiterkindern aus den dunklen Hinterhöfen wie lichtdurchflutete Paläste vorgekommen sein müssen, war Teil des gebauten pädagogischen Programms. Gleichzeitig mit der obrigkeitsstaatlichen Pädagogik ging auch die Vermittlung hygienischer Standards einher (Kemnitz 2013; Hackl/Steger 2014).
Von diesem Geist ist im heutigen WUK allerdings nicht mehr viel zu spüren. Das Gebäude wird von vielen gemeinnützigen und künstlerischen Initiativen genutzt. So sind auch Schulen und Kindergruppen in freier Trägerschaft in dem Gebäude zu finden. Die Kinder haben in der kleinen Volksschule pro Klasse ein eigenes Haus, in das Erwachsene nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der Kinder Zutritt haben.
Als Kriterium für einen sinnvollen Schulbau hatte Max Bächer einmal angegeben, dass (Schul-)räume »gegenüber Nutzungsänderungen elastisch« (Bächer 2003: S.
24) sein sollten. Die Kinder, Eltern und LehrerInnen in der kleinen Volksschule haben dieses Paradigma umgesetzt und aus den alten Gründerzeiträumen mit Wandteilungen, Hochebenen, Kuschelecken und selbstgebauten Möbeln ihren eigenen Lern- und Lebensraum gestaltet. Was lehrt so ein Raum? Vielleicht, dass man sich in der Schule zu Hause fühlen kann. Dass es mehr ist als ein Ort des SchülerInnen-Jobs (Breidenstein), sondern ein Ort, der den Bedürfnissen der dort arbeitenden LehrerInnen und SchülerInnen entgegenkommt.

Schulneubau in Wien
Optimale Lehrbedingungen im toten Raum
Mit der Volksschule im Campus Sonnwendviertel besuchten wir auch einen nach neuesten Gesichtspunkten errichteten pädagogischen Raum. Im Campus sind Kindergarten, Volksschule und Mittelschule in getrennten, aber miteinander verbundenen Räumen untergebracht. Es gibt Foren, die an Amphitheater erinnern, gemeinschaftliche Arbeitsbereiche, Bildungsräume sind geclustert und versprechen Flexibilität in der Nutzung und individualisiertes Lernen durch Klassenteilungen (vgl. Binder 2015).
Die Räume sind hell und licht und transparent. Es gibt zu jedem Klassenraum einen Außenbereich, der separat zugänglich ist, die kasernenartigen Gänge der Schule alten Stils gehören der Vergangenheit an. Im deutlichen Unterschied zum WUK wirkt das Gebäude aseptisch rein. Zwar machen die Kinder auch bei Regen in der Betonlandschaft weder sich noch das Schulgebäude schmutzig, aber der Pflasterverbrauch scheint ungewöhnlich hoch, berichten die PädagogInnen. Von den Wandgestaltungen von Kindern und PädagogInnen sind oft nur noch die Überreste zu sehen. Spätestens zu den großen Ferien kommen alle Wandelemente wieder in den Müll, denn dann wird neu gestrichen. An einer Wand zum Beispiel muss einmal ein Plakat über Friedensreich Hundertwasser gehangen haben. Nur noch der Name prangt wie ein Menetekel an der kahlen Wand. Das wenige Grün, das sich hier findet, ist entweder Kunstrasen oder stärker eingehegt als in einem französischen Park.
Nicht wenige Türen sind verschlossen und machen auch denjenigen, die noch nicht lesen können, deutlich, dass sie hier nicht erwünscht sind.
Die Umgebung des Sonnenwend-Campus ist das Neubaugebiet am Wiener Hauptbahnhof. Man baut mit viel Glas und Beton. Anders als in den Schulen der Gründerzeit ist die Schule hier aber nicht das Gegenkonzept zur Wohnsituation der einfachen Bevölkerung, sondern sie setzt die dort etablierte Praxis der klaren Formensprache nahtlos fort. 
Die Wohnbedingungen des Proletariats entsprechen nicht mehr den kalten, dunklen Hinterhöfen der Gründerzeit. Auch in dieser Schule herrscht an Licht und Luft wahrlich kein Mangel. Allerdings lassen sich im Sommer die vielen Terrassen wegen der Hitze, im Winter wegen der Kälte nicht nutzen. »Grün« sind die Klassenzimmer im Freien ohnehin nicht.
Angesichts des Klimawandels werden wir es wohl vermehrt mit Extremwetterlagen zu tun haben und es wäre zu überlegen, ob man nicht auch im Schulbau in Europa von ArchitektInnen wie Francis Kéré (http://www.deutschlandfunk.de/ausstellung-in-muenchen-francis-kere-der-…. 691.de) lernen müsste. Wenn man bedenkt, dass die moderne Pädagogik eigentlich bei Rousseau und der Wiederentdeckung der Natur ihren Ausgang nahm, so können wir im Campus Sonnwendviertel erleben, dass die Natur hier im 21. Jahrhundert keine Chance bekommt. Hier und da wird ein Baum ausgestellt, wie in einem Museum. Buntheit und Lebendigkeit kommen in diesem Schulgebäude nur ausnahmsweise vor und nehmen sich dann umso trauriger aus. Was lehrt dieser Raum? Es ist spannend zu erleben, wie die PädagogInnen und Kinder diesem Raum eine pädagogische Nutzung geradezu abringen. Wie sie immer wieder versuchen, ein wenig Leben in die Tristesse aus Stahl, Beton und Glas zu bringen und wie die Logik des Baus gegen die kindliche Entropie zumindest in den großen Ferien die Oberhand zurückgewinnt. Zu hoffen bleibt, dass der zweite thermodynamische Hauptsatz auch in diesem Schulgebäude auf lange Sicht die Oberhand gewinnt.